Zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution.

Fünfzig Jahre danach.

Vor 50 Jahren, am 7. November 1917, übernahm die Bolschewistische Partei die Macht in Rußland - die erste siegreiche proletarische Revolution der Weltgeschichte. Am 7. November schickte sich das russische Proletariat an, den Sozialismus aufzubauen. 

Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, ist die Sowjetunion seither dem Sozialismus nähergekommen? 

Gewiß, in etlichen Teilen der Erde ist inzwischen die Herrschaft des Kapitalismus gebrochen worden. Aber können wir das gesellschaftliche Regime in irgendeinem dieser Länder, von Ostasien bis zur Karibischen See, anhand marxistischer Kriterien als sozialistisch bezeichnen?

Nach eine halben Jahrhundert Aufbau des Sozialismus ist nicht etwa der Staat als Zwangsorgan ge- genüber gegenüber der besiegten Bourgeoisie abgestorben, wie es Marx und Lenin erwartet hatte, sondern hat sich stattdessen als Zwangsorgan einer politisch und materiell privilegierten Bürokraten- kaste über das Proletariat erhoben und macht bisher nicht die geringsten Anstalten, absterben zu wollen. Ein halbes Jahrhundert nach dem Roten Oktober sind die Sowjets, die Organe der demokra- tischen Diktatur der Arbeiterklasse, zu unpolitischen, machtlosen Schwatzbuden vom Niveau west-berliner Bezirksverordnetenversammlungen verkommen. Die Bolschewistische Partei Lenins und Trotzkis, die Partei der Oktoberrevolution, ist ein Asyl für die Mittelmäßigkeit und Tummelplatz für Postenjäger geworden. Und andererseits ist es dem armseligen, bäuerlichen Rußland gelungen, in dieser Zeit zur zweitstärksten Industriemacht de Welt emporzusteigen!

Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Wie erklärt der Marxismus jene unsäglichen Verbrechen, die in der Sowjetunion und durch die Sowjetunion im Namen des Sozialismus und der Weltrevolution be- gangen wurden? Wie ist es zu erklären, daß von der Alten Garde des Bolschewismus, von den Kampf- gefährten Lenins, nur die blassesten, farblosesten, charakterlosesten diese fünfzig Jahre überlebten, während die große Mehrheit den apokalyptischen Hexenjagden der Stalin-Ära zum Opfer fiel: Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Bucharin, Radek und dutzende, hunderte anderer?

Für den Marxismus ist die phantastische Entartung de Bolschewistischen Partei zu einer Hilfstruppe de GPU weder ein schicksalhaft-unausweichlicher Prozeß, noch ein Betriebsunfall der Weltgeschichte, verursacht durch den schlechten Charakter einer einzelnen Person - Stalin. Der Marxismus sieht in der Geschichte keine geheimnisvollen, überirdischen Weltgeister walten, noch ist ihm der historische Pro- zeß bloß die Summe der großen Taten großer Männer. Die Kraft, die er als die Dynamik im Verlauf der Geschichte erkennt, ist der Kampf feindlicher Klassen und feindliche Schichten innerhalb dieser Klassen - und zwar nicht nur in einem Land, sondern im Weltmaßstab.

Entgegen der Erwartungen von Marx und Engels hat die proletarische Revolution nicht zuerst in einem industriell hochentwickelten Land gesiegt - ein Umstand, der für die marxistischen Theoretiker aller- dings keineswegs unerwartet kam: Seit 1905 haben Rosa Luxemburg und L. Trotzki in der Theorie der "permanenten Revolution" vorhergesehen, dass das Proletariat vermutlich zuerst in einem zurückge- bliebenen Land siegen würde, nämlich Rußland.

Für Marx und Lenin war die proletarische Revolution immer nur als Weltrevolution denkbar. Noch im Dezember 1922 erklärt der IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale, "daß die proletari- sche Revolution nie innerhalb eines einzigen Landes vollständig siegen kann, daß sie vielmehr inter- national, als Weltrevolution siegen muß". Aber die proletarische Revolution in den andern Ländern bleib aus - wesentlich mitverursacht durch die falsche Politik der Komintern-Spitze. Sowjetrußland blieb eine vom Imperialismus umzingelte und belagerte Festung. 

Dies war - nach dem niedrigen Industrialisierunsgrad Rußlands und den durch den Bürgerkrieg ver- ursachten Verwüstungen -  die wichtigste historische Voraussetzung für die Herausbildung einer ökonomisch und politisch privilegierten Bürokratenkaste, die sich über das Proletariat erhob und es seiner politischen Macht beraubte: Die Diktatur des Proletariats wird ersetzt durch die Diktatur der Bürokratie über das Proletariat.

In der warenproduzierenden, also von entfremdeter Arbeit lebenden Gesellschaft entstehen und repro- duzieren entstehen und reproduzieren sich unvermeidlich die aus der kapitalistischen Gesellschaft überkommenen Verdinglichungstendenzen, die zur Bürokratisierung auch der revolutionärsten Partei führen können. Dieser allgemeine Zug zur Bürokratisierung, der erst in der kommunistischen Über- flußgesellschaft überwunden werden dürfte, mußte im rückständigen Rußland besonders scharfe For- men annehmen. Diese Bürokratisierung erschöpfte sich alsbald nicht mehr nur in mehr oder weniger individuellen Akten politischer Willkür, sondern verfestigte sich schließlich in materiellen Privilegien, die der Bürokratenkaste eine neue gesellschaftliche Qualität gaben.

Sowjetrußland litt in seinen frühen Jahren an einem akuten Mangel an fast allen Konsumgütern, so daß eine gerechte Verteilung des wenigen Vorhandenen nur eine Verallgemeinerung der Not hätte bedeu- ten können. Da die Bolschewistische Partei nach dem Wenn es so nicht geht, geht’s gar nicht, hieß es hinter vorgehaltenere Hand. Verbot aller anderen Parteien - die sämtlich ins Lage der bewaffneten Konterrevolution übergegangen waren! - das Monopol der politischen Macht ausübte, erlag ein Groß- teil der Partei- und Staatsfunktionäre der Versuchung, diese Macht diese Macht und den sich daraus ergebenden administrativen Einfluß auf das Distributionssystem auszunutzen, um sich einen möglichst großen Anteil an den knappe Gütern zu sicher. Der Aufstieg der privilegierten Sowjetbürokratie findet ihren politischen Ausdruck im Aufstieg jenes Prototyps eines Apparatschiks, Josef Stalin, und in seinem Sieg über die Linke Opposition, die er physisch liquidieren ließ, einschließlich ihres Führers Leo Trotzki. Die Aufzählung all der Greuel, all der historischen Verbrechen und jedes Verrats an der Weltrevolution, die auf das Konto der Stalin-Führung gehen, ersparen wir uns; ein jedes ist zu düster- ster Berühmtheit gelangt.

Nach dem Willen der sowjetamtlichen Historiographie endet die verschämt so genannte "Periode des Personenkults" mit Stalins Tod 1953. Die Auswüchse, die "Verletzungen der sozialistischen Gesetz- lichkkeit, sollen seit dem "Tauwetter", seit der "Liberalisierung" ein Ende gefunden haben.

Aber hat diese "Liberalisierung" etwas mit der Demokratisierung der sowjetischen Gesellschatft, mit einer Rückkehr zur Rätedemokratie zu tun? 

Ganz und gar nicht. Die "Liberalisierung" ist nicht mehr und nicht weniger als der Reflex einer Macht- verschiebung innerhalb der Bürokratenkaste, sie kommt nahezu ausschließlich der mittleren Schicht der Bürokratie, den Technokraten im Wirtschaftsapparat und der Intelligentsia zugute, deren spezifi- sches Gewicht in der Sowjetgesellschaft dank des technischen Fortschritts enorm angewachsen ist und die daher der "zentralen Bürokratie", nämlich dem Partei-, Staats- und Militärapparat, einen Teil ihrer politischen Prärogativen abtrotzen konnte. Das Proletariat bleibt politisch ebenso entmündigt wie zuvor; von Rätedemokratie keine Spur, worüber auch der gestiegene Lebensstandard nicht hinweg- trösten kann.

Aber gerade in diesem Aufstieg der Wirtschafts-Technokraten liegt heute, fünfzig Jahre nach dem Roten Oktober, die Hauptgefahr für die Errungenschaften der Oktoberrevolution. Die spontane, nicht recht bewußte Tendenz dieser Gesellschaftsschicht ist, wie bereits die Libermanschen Reformen deutlich gemacht haben, die Rückkehr zum Profitprinzip, die Aushöhlung des Plansystems und die allmähliche Rückkehr zur Marktwirtschaft - das alles im Namen der "Effektivität". 

Heute, ein halbes Jahrhundert nach der Oktoberrevolution, zeichnet sich ein weiteres Mal die reale Möglichkeit einer kapitalistischen Restauration in der Sowjetunion ab, dem ersten Arbeiterstaat der Geschichte.

Die Gefahr, daß sich diese Möglichkeit zu einer wirklichen Tendenz verdichtet, würde sich angesichts neuer, entscheidenden Siege der Weltrevolution bedeutend vermindern. Ebendies mag de Hauptgrund für die mehr als zögernde Haltung der Sowjetbürokratie gegenüber den revolutionären Bewegungen vor allem in der neokolonialen Welt sein; dies ist auch der Grund für ihren unablässigen Versuch eines Arrangements mit der US-Regierung.

Aber machen wir uns keine Illusionen: Die Gefahr der kapitalistischen Restauration in der Sowjetuni- on kann letzten Endes und endgültig nur durch die politische Entmachtung der Bürokratie, durch die Rückeroberung der politischen Macht durch das Proletariat un durch die Rückkehr zr proletarischen Rätemacht gebannt werden!

Redaktion
NEUER ROTER TURM
Unabhängige Schülerzeitschrift

Sozialistische Jugend Deutschlands
Kreisverband Schöneberg


Anmerkung 2015. - Man merkt dem Text an, dass er im Vorfeld der 68er Studentenbewegung entstanden ist. Die 'allgemeine Verdinglichungstendenz der warenproduzierenden Gesellschaft' wird aufgeboten, um ein ganz konkretes historisches Ereignis zu erklären: die Dezimierung der russischen Arbeiterklasse im Bürgerkrieg und die daraus resultierenden Absorption der überlebenden bolschewistischen Kader durch den neuentstehenden sowjetischen Staatsapparat. Es war die Zersetzung und Auflösung der Führung, die den Weg zur bürokratischen Konterrevolution geebnet hat; doch von Führung mochte man im antiautoritären Zeitalter nicht recht reden. Nur war sie das alles entscheidende Problem.
M.W.



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