Unsere Stellung zum Trotzkismus (1976)

Unsere Stellung zum Trotzkismus und
die Stellung des Trotzkismus zur Arbeiterbewegung

Referat auf der Konferenz der I.K.D. am 10./11. 1. 1976

von Martin Weil


I. 'Marxismus'

Der Kommunismus ist nichts anderes als der subjektive, nämlich bewusste Ausdruck der objektiven, zunächst unbewussten Klassen-Existenz des Proletariats. Der Kommunismus ist keine Doktrin, sondern eine Bewegung; er geht nicht von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus. Die Kommunisten haben nicht diese oder jene Philosophie, sondern die ganze bisherige Geschichte und speziell ihre gegenwärtigen Resultate zur Voraussetzung. Der Kommunismus, soweit er theoretisch ist, ist der theoretische Ausdruck der Stellung des Proletariats im Klassenkampf und die theoretische Zusammenfassung der Bedingungen seiner Befreiung. Seine 'theoretischen' Sätze sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse des existierenden Klassenkampfs, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung, und die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus den heute bestehenden Voraussetzungen.

Die reale Vermittlung beider: nämlich des kommunistischen 'Programms', des 'Marxismus' als Theorie, mit der realen Existenz der Arbeiterklasse, kann also gewiss nicht diesen Weg nehmen: "Hineintragen" des 'Marxismus' durch die Theoretiker in den Klassenkampf, den dieser selbst ist ja eben der Prozess, in welchem das Proletariat sich seine Existenz als Klasse bewusst macht und sich ihrer in der Organisation dauerhaft versichert.

Wo die kommunistische 'Doktrin' 'vorwegnimmt', was das Proletariat "schließlich zu tun gezwungen sein wird", so tut sie das nur theoretisch, und das heißt spekulativ und insofern noch ideologisch. Aber the test of the pudding is the eating, und die Probe auf den 'Marxismus'  ist sein Vermögen, gestaltend in den Klassenkampf einzugreifen und so tatsächliche Resultate zu zeitigen, wodurch allein er selbst Teil der Wirklichkeit wird; aber keineswegs ist umgekehrt 'das Programm' die Probe auf die tatsächliche Arbeiterbewegung, vor der jene sich zu rechtfertigen hat. Können die beiden zueinander nicht finden, so hat wohl die 'Idee' zur Wirklichkeit zu dringen, und nicht vornehm zu warten, dass der Berg zum Propheten wallfahrtet wie nach Canossa.

Wenn es also 'das Programm' - das bewusste von 1938! - bis heute nicht vermocht hat, sich wirksam in die Kämpfe des Proletariats einzumischen (oder richtiger, da ja 'das Programm' von sich aus keinen Schritt tun kann: da es den 'Trotzkisten' bislang nicht gelungen ist, ihr Programm als eine gestaltende Macht in die Klassenkämpfe einzubringen - die übrigens unterdes neue tatsächliche Resultate hervorgebracht haben, von denen die kämpfenden Klassen als von neuen Voraussetzungen ausgehen, sich also wenn zwar nicht in ihrem Sein, so doch - anders als die 'Trotzkisten' in ihrem Sosein verändert haben) - reicht es dann aus, dass dieselben 'Trotzkisten' seit Jahr und Tag der Geschichte einer Kehrtwendung ins Jahr '38 aufzuschwatzen suchen, wo dann dem Programm mit den endlich wiedergefundenen Bedingungen eine neue Aktualität erwächst?

II. Das 'Programm'

Das 'Programm' ist die gedankliche Form, in der sich das revolutionäre Subjekt über seine Stellung zu seinem Gegenstand verständigt, und zwar nicht nur nach seinem gegenwärtigen Sein, sondern auch nach seinem künftigen Sollen; dieses 'Sollen', der Sinn des Ganzen nämlich, ist ja die Veränderung des Subjekts und des Objekts im Prozess ihrer praktischen Vermittlung, und also in ihrer Stellung zu einander. So ist klar, dass der sachliche Inhalt des Programms von der Beschaffenheit seines Trägers nicht minder bestimmt wird, als von der seines Gegenstands. 'Das Programm bedeutet soviel, wie die Partei darstellt', heißt es bei Trotzki.

Einem Grüppchen außerhalb der Arbeiterklasse gelten alle 'Faktoren' als gleichermaßen 'objektiv', denn es ist keinem Herr; die Arbeiterklasse in ihrer objektiven wie subjektiven Gestalt ist ihm nur Gegenstand, und zwar sein erster, um nicht zusagen einziger; alles andere ist frommer Wunsch. Eine politische Gruppierung dagegen, die bereits in der einen oder andern Weise wirklich ein Teil der Klassenexistenz des Proletariats bildet, muss ihre Aufgeben gegenüber dem Proletariat zugleich als dessen Aufgaben gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft formulieren. Das heißt, ihr 'Programm' muss den Zusammenhang ausdrücken zwischen den objektiven Erfordernissen des Klassenkampfs, wie sie sich ergeben aus der Notwendigkeit für das Proletariat, seine Existenz als Klasse in jedem Fall zu verteidigen, und deren logischem Zweck, der politischen Machtergreifung;  zwischen der Rolle, die das politisch bewusste Moment, die 'Partei', in diesem Vermittlungszusammenhang zu spielen hat, und von der Art und Weise, wie  sich die 'Partei' ihrer Aufgaben entledigt; und muss schließlich die Veränderungen ausdrücken, denen die Rolle und daher die Substanz der Partei im Verlauf dieses Prozesses unterworfen sein wird.

Dieser Zusammenhang liegt überhaupt der Idee der Übergangslosungen, eines Übergangs-Programms zugrunde. Eine revolutionäre Partei, die im Rahmen einer rein kapitalistischen Gesellschaft die Gesamtheit der Arbeiterklasse verträte, bedürfte irgendwelcher Übergangslosungen ebensowenig wie jeglicher Taktik. Formierung der proletarischen Vorhut, Einheitsfront der Arbeiterklasse in Kampf um die Übergangslosungen, "Konstituierung zur Klasse" auf revolutionärer Plattform - in den Räten: all das wären keine Gesichtspunkte mehr für sie und hätte in ihrem "Programm" nichts verloren.

Das Programm von '38 wurde verfasst für eine politische Tendenz, die nicht nur schon einen Teil der kämpfenden Arbeiterklasse bildet, sondern die sich schon unmittelbar zum Kampf um die revolutionäre Vereinigung der Klasse unter ihrer Führung anschickt; denn allein auf dieser Prämisse beruhte die Proklamation der Vierten Internationale, dass der Krieg nämlich den Zusammenbruch aller bisherigen Arbeiterparteien bedeuten und die Vierte als einzige Alternative zurücklassen würde. Die unmittelbaren taktischen Aufgaben der Verwurzelung der ihrer Sektionen in der nationalen Realität würden in eins fallen mit der Stellung, die die Internationale zum Weltkrieg einnahm, der wie ein Brennspiegel alle nationalen Klassenkämpfe auf einen Punkt konzentrieren musste... Wir haben nicht erst gestern darauf hingewiesen, dass die Vierte seinerzeit ja nicht aufgrund der gegebenen Kräfte der Bolschewiki-Leninisten proklamiert wurde, sondern im bewussten Vorgriff auf ihre unausweichliche nächste Zukunft - und wo wäre das deutlicher zu merken als eben im Programm von '38! Wie soll man da jene qualifizieren, die heute mit den Buchstaben eines Programms wedeln, das schon zu seiner Zeit so auf Hypothesen gebaut war?

III. Die wirklichen Voraussetzungen des Trotzkismus

Heißt das nun, dass wir uns heute "vom Ballast der Vergangenheit losmachen" und wie auf einer Tabula rasa mit ungebundener Hand wiedermal "ganz von vorn anfangen" sollten - bei den gesam- melten Schriften von Marx und - nun ja - Engels? Dass wir die Geschichte der Arbeiterbewegung, deren materiellen Resultate, Siege wie Niederlagen, Bestandteil unsere Wirklichkeit sind, als für uns nicht verbindlich verwerfen? Sicher nicht. Sie sind Tatsachen, von denen wir ausgehen. Aber darum werden wir sie noch lange nicht, weil wirklich, auch als wahr verklären, als hätten sie eben so und nicht anders naturnotwendig sich einstellen müssen. Die Menschen machen ihre Geschichte nicht unter beliebig frei zu wählenden Umständen, aber sie machen sie selbst, und dabei ist noch immer ganz was anderes herausgekommen, als sie sich das gedacht haben. Das gilt wie für die Arbeiterbewegung überhaupt, ebenso und umso mehr für ihre bewussteste und darum subjektivste Gestalt: die trotzkistische Bewegung.

Dass sich diese 'Gestalt' gegenüber der wirklichen Arbeiterbewegung verselbständigt hat, weil sie gewaltsam von ihr getrennt worden ist, das ist  w i r k l i c h , aber deshalb werden wir uns noch lange nicht in diesen fait accompli schicken.

'Trotzkismus' ist nicht eine besondere, 'besonders' wahre 'Theorie', die mit ihrer besonderen Wahrheit auch ihre eigene Logik, eigenen Schicksale und eigene Geschichte produziert hätte. Die materialistisch-dialektische Geschichtsauffassung ist, als  A u s d r u c k  der Klassenkämpfe, gebunden an deren Realgeschichte, und wo sie dieser gegenüber eine eigene  I d e e n g s c h i c h t e  entwickelt, da tut sie es in den Gefilden der Ideologie. Sie ist die mit den Methoden des dialektischen Denkens gewonnene Selbsterkenntnis des Proletariats von seiner Stellung in einer materialistisch verstandenen, nämlich ihres dinglichen Schleiers entkleideten Klassengesellschaft. Jeder Sieg des Proletariats ist eine weiterer Schritt dieser Klasse auf dem Weg ihrer Selbsterkenntnis, und darum eine weiterer Schritt des 'Marxismus' als Theorie, und deren Niederlagen sind ebensoviele Rückschläge für die 'Theorie', die ihren geschichtlichen Weg ideell ausdrückt. So schlägt sich jede Epoche gesellschaftlicher Reaktion in einer Offensive ideologischer Konterrevolution nieder, und das bedeutet eine erneute Überwältigung der Arbeitermassen durch den dinghaften Schein der bürgerlichen Verhältnisse.

Das bürgerliche Denken hat es dabei nicht einmal nötig - und ist auch gar nicht mehr fähig -, unter eigener Klassenfahne anzutreten: Es ist allgegenwärtig im gesunden Menschenverstand der bürgerlichen Privatindividuen und kann sich in schönster Harmonie verbinden mit den wildesten Phantasmagorien, deren sich die Metaphysik der Tatsachen stets willig und wohlfeil in den Arm wirft, und selbst isolierte Bruchtücke des selbständigen proletarischen Klassendenkens braucht es nicht zu verschmähen, welches es dergestalt zu korrumpieren und zu diskreditieren sucht.

In diese Kategorie gehört der Marx-Darwinismus der Zweiten Internationale ebenso wie der "Marxismus-Leninismus", sprich Stalinismus der Dritten, und auch der Faschismus als Theorie, obgleich von völlig anderer Qualität, gehört in diesen Zusammenhang. Die Herrschaft des Marxismus in der Arbeiterbewegung ist nicht der Regelfall, den die Ausnahmen legionenweise bestätigen, sondern ist selber die Ausnahme, nämlich Ausdruck von aufs höchste gesteigerten Klassenauseinandersetzungen.

In den Perioden des Zurückweichens und der Auflösung der Arbeiterklasse, die auf solche Höhepunkte folgen, kommt es ein weiteres Mal zum Auseinanderfallen zwischen Arbeiterbewegung und ihren Theoretikern, den irréductibles, die nicht "umlernen" und sich, weil sie die einmal erreichte Höhe der Klassenauseinandersetzung nicht  r e a l  festzuschreiben vermögen, an deren ideologischen Widerschein klammern und ihn für bessere Zeiten verwahren.

Das ist eine nützliche, gar notwendige Sache, damit die Arbeiterbewegung wenigtsens auf diesem Gebiet nicht stets wieder bei Null anfangen muss, nimmt aber, je länger die Eiszeit währt, unvermeidlich kultische Formen an, die dem Inhalt gar nicht gut bekommen; es ist das auch so eine Art 'notwendiger Falschheit'...

Das doktrinäre Sektenwesen hat also nicht nur als Vorbote und Künder der Arbeiterbewegung seine relative Berechtigung, sondern auch als deren  Z e u g e , und den apostolischen Eifer der Auserwählten muss man ja wohl in Kauf nehmen.

IV. positive Bedeutung

Der 'Trotzkismus'  macht da keine Ausnahme. Er ist nicht - und hat auch nie den Anspruh erhoben, was eine Schwäche ist -  ein theoretischer Fortschritt (den er freilich auch nur im Zusammenhang mit realen Fortschritten der Arbeiterbewegung hätte sein können) gegenüber dem in der Oktoberrevolution Erreichten, er kündigt sich vielmehr selbst an als  B e w a h r e r  des schon Dagewesenen - als "Bolschewismus-Leninismus" (obwohl er doch wenigstens in der Frage der permanenten Revolution spüren muss, wie es ihn mächtig darüber hinausdrängt...). Er ist die Form, die die Defensive des 'Marxismus' in der  T h e o r i e  annimmt, da er in der Wirklichkeit der Arbeiterbewegung immer weniger erfolgreich verteidigt werden kann; diese ideologische Defensive ist organisch verschweißt  mit den realen Kämpfen der Linken Opposition in Russland und findet ihre Kurzformel im Namen von Leo Trotzki - so wie die Verteidigung des Marxismus schließlich im Namen "Bolschewismus" ihr Losungswort gefunden hatte, um das sich restlos alle Elemente versammeln konnten, die auch unter den "außergewöhnlichen" Bedingungen des  K r i e g e s  am Klassenkampf als der Voraussetzung aller proletarischen Politik festhielten. Mehr war der Bolschewismus nicht, und mehr konnte auch der 'Trotzkismus' nicht sein, da er ja eben nicht einen so eminenten Fortschritt in die Welt zu setzen vermochte wie weiland der Oktober. Aber wie jener seinerzeit die  V o r r a u s s e t z u n g  für das Neuerstehen der Arbeiterinternationale gewesen ist, so bleibt auch dieser die Plattform,  u n t e r h a l b  derer  jeder Versuch im Sande verlaufen wird, das Proletariat im Weltmaßstab zur Klasse zu formieren. In diesem, in ebendiesem Sinne  s i n d   u n d   b l e i b e n   w i r   n a c h   w i e   v o r   T r o t z k i s t e n.

V. Esoterik des Trotzkismus

Insofern aber, als der Trotzkismus sich als bloß-theoretische 'Richtung'  a u ß e r h a l b  der wirklichen Klassenkämpfe entwickelt hat und seine inneren Krisen und Friktionen darum nicht Produkt, sondern allenfalls - überdies oft doktrinär verzerrter - Reflex der Arbeiterbewegung sind, die für jene ohne Belang bleiben, können uns die Resultate seiner esoterischen Entwicklung nicht ebenso als Tatsachen gelten, von denen wir auszugehen hätten, wie die Ergebnisse der Realgeschichte der Klassenkämpfe. Dass die Trotzkisten sich als eine  b e s o n d e r e  Richtung gegenüber anderen politisch-theoretischen 'Schulen' behaupten, dass sie besondere Prinzipien aufstellen, nach denen sich die Arbeiterbewegung richten soll, verweist darauf, dass sie noch keineswegs der praktisch entschiedenste, immer weiter treibenden Teil der Arbeiterbewegung sind, gegenüber deren Masse sie sich durch nichts unterscheiden als durch ihre Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung. In dieser selbstgewählten theoretischen Stellung, der Stellung als Theoretiker, drückt sich die Ahnung aus, dass sie eben keine Strömung der Arbeiterbewegung sein können, solange sie nicht eine Strömung  i n  der Arbeiterbewegung sind.

VI. falsch gestellte Weichen

Die bewährte Besonderheit des Trotzkismus ist Ausdruck seiner realen Trennung von den Klassenkämpfen, aber diese tatsächliche Trennung kann nur unter der Voraussetzung aufgehoben werden, dass die Besonderheit der Theorie auch  t h e o r e t i s c h  überwunden wird, die Resultate der Ideengeschichte an den Resultaten der Realgeschichte gemessen werden und nicht umgekehrt.

Der Knoten seiner theoretischen Besonderheit ist die Stellung zur Oktoberrevolution und dem sogenannten Leninismus. Gegenüber beiden tritt er als Verteidiger auf und Bewahrer. Diese affirmative Haltung des Bekenners verbaut aber den Zugang zu einem historisch-kritischen Verständnis für die Bedeutung der russischen Revolution und ihrer Schicksale für die internationale Arbeiterbewegung und wirkt teilweise apologetisch. Die Herkunft des Trotzkismus haftet ihm auch  a l s  T h e o r i e  an; ähnlich wie den offiziellen Erben des Oktobers, die verschiedenen stalinistischen Schulen, betrachtet er, wenn auch in entgegengesetzter Richtung, die gesamte Geschichte er internationalen Arbeiterbewegung unterm Gesichtspunkt der Oktoberrevolution, genauer: aus der Sicht der  r u s s i s c h e n  Arbeiterbewegung.

Das hat für die Geschichte  v o r  dem Ersten Weltkrieg seine relative Berechtigung soweit, als die russische Revolution - selbst das bis dahin fortgeschrittenste Resultat der Klassenkämpfe, ihr einstweiliger Höhepunkt - die Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung als ihre eigene Vorgeschichte auffasst und sich selbst als deren Zweck, ihre Causa finalis, und von daher die ganzen Geschichte der Arbeiterbewegung nachträglich umschreibt. Die Anatomie des Menschen ist der Schlüssel zur Anatomie des Affen, oder allgemein: Es sind die Ergebnisse, die erst den Ursachen ihre Bedeutung beimessen.

Aber die Arbeitermacht in Russand war - auch logish - nicht der Endpunkt des proletarischen Emanzipationskampfs, etwa in dem Sinn, als wäre dort ausschnittsweise schon realisiert, was, global ausgeweitet, das letzte Ziel der Entwicklung ausmacht. Es gibt keinen Sozialismus in einem Land, und darum konnte die Arbeiteracht  in  R u s s l a n d  auch unter optimalen Bedingungen stets nur ein  Ü b e r g a n g s r e g i m e  als Ergebnis zeitigen.

Und auch das Ergebnis selbst ist in seiner konkreten Gestalt durch den Verlauf der Klassenkämpfe im Weltmaßstab bestimmt, und diese verhalten sich nun zur Oktoberrevolution und zu dem durch sie geschaffenen Regime als zu  i h r e n  Voraussetzungen, betrachten wiederum sich selbst als deren
Z w e c k. In völlig mystischer Form kommt das in der stalinistischen Theorie vom "sozialistischen Lager" sogar unmittelbar zum Ausdruck, in der trotzkistischen Theorie dagegen gar nicht.

Die Oktoberrevolution kann mithin nicht als der ideale Maßstab der gegenwärtigen Arbeiterbewegung gelten, denn sie hat ihrerseits Resultate hervorgebracht, die sie aus einem progressiven in einen hemmenden Faktor des internationalen Klassenkampfs verwandelt haben.

Was ich damit meine, will ich anhand einer ganz hypothetischen Frage verdeutlichen, die ansonsten auch völlig bedeutungslos ist, die aber immerhin seinerzeit Köpfe wie Rosa L. und K. Liebknecht ernstlich zu erwägen gaben: Was "wäre gewesen, wenn"* die Bolschewiki im Vorgriff auf die  d e u t s c h e  Revolution den Brester Frieden doch nicht geschlossen, die Arbeitermacht in Russland bewusst aufs Spiel gesetzt, so aber zugleich das Erstehen einer ganzen Reihe von Barrieren vermieden hätten, die die isolierte Diktatur notwendigerweise vor der Arbeiterbewegung auftürmen musste?! Jedenfalls haben beide, R.L. und K.L., die vollständige Abhängigkeit der russischen Revolution von der europäischen, namentlich der deutschen Revolution mindestens so klar gesehen, wie damals noch die bolschewistische Führungsspitze, von der Rosa L. meinte, dass sie beim Ausbleiben der deutschen Revolution objektiv gar keine richtige Taktik betreiben könne, da unter dieser Voraussetzung zwangsläufig Alles falsch sein müsse. Und immerhin: Eine Niederlage nach schwerem Kampf wäre eine Tatsache von ebenso großer revolutionärer Bedeutung gewesen wie ein leicht errungener Sieg.

*

Wäre es nicht ebenso sinnvoll, die Geschichte der Klassenkämpfe des zwanzigsten Jahrhunderts unterm Gesichtswinkel der  d e u t s c h e n  Arbeiterbewegung zu begreifen – und sei es nur der Verfremdung wegen? Denn wenn auch der eine oder andere Philister ob dieser neuen Unverfrorenheit des "Nationaltrotzkismus" sein gedankenloses Haupt schütteln mag, findet ein solches Vorgehen doch einige tragfähige Stützpunkte im tatsächlichen geschichtlichen Prozess.  Die Geschichte der Klassenkämpfe bleibt nämlich ohne Sinn, sofern sie nicht als  e i n  M o m e n t  im Konstituierungsprozess der bürgerlichen Gesellschaft und insbesondere in der Bildung des  W e l t m a r k t s  aufgefasst wird.

Als Marx und Engels nach dem Krieg von 1870/71 voraussagten, dass sich nun der Schwerpunkt der internationalen Arbeiterbewegung für eine ganze historische Periode von Frankreich nach Deutschland verschieben würde, da zogen sie nicht nur vordergründig die materielle Vernichtung der proletarischen Organisationen nach der Kommune in Betracht – die ja doch auch nicht ewig dauern konnte! -, sondern gerade die nunmehr veränderte weltpolitische Bedeutung des deutschen Kapitals, dem in Bismarcks Reich außer einem einheitlichen inneren Markt endlich auch der  s t a r k e  S t a a t  oktroyiert worden war, der allein die institutionellen Voraussetzungen für jenen kühnen Vorstoß Deutschlands auf dem Weltmarkt bot, der in zwei Weltkriegen um die – inzwischen anscheinend gelingende – 'Neuordnung Europas' das Gesicht des XX. Jahrhunderts gestaltet hat.

Die Niederlage von 1871 warf Frankreich auf eine rein konservative, subalterne Rolle im Konzert der Großmächte zurück, die ihm weder wirklich selbständige imperialistische Initiativen erlaubte noch die Bildung eines nationalen  F i n a n z k a p i t a l s  als deren Voraussetzung abverlangte. Diesem parasitären Gralshüter des europäischen Status quo unterm Protektorat des Zaren stand Deutschland als das gestaltende dynamische Element gegenüber, dessen Weltmarktstellung unweigerlich in die Kraftprobe mit dem britischen Empire und – über die „Organisierung“ Europas –in die direkte Konfrontation mit den Vereinigten Staaten führen musste : jenem anderen Anwärter auf die freiwerdende Stelle der imperialistischen Führungsmacht.

*

Das Millionenheer der deutschen Proletarier selbst ist das  P r o d u k t  dieser gewaltigen imperialistischen Kraftentfaltung ebenso sehr, wie die spezifischen Strukturen der deutschen  A r b e i t e r b e w e g u n g  das Produkt von Bismarcks Beamten- und Militärstaat waren.

Das deutsche Kapital war der aggressive Faktor, der das von Großbritannien bewahrte Gleichgewicht auf dem Weltmarkt einstürzen ließ und notwendig auf den  W e l t k r i e g  hinsteuerte – und entsprechend fiel der deutschen Arbeiterpartei bei der Formulierung der internationalen Klassenpolitik des Proletariats die zentrale Rolle zu. Von ihr hing es ab, ob – wenn es schon nicht gelingen würde, den Krieg selbst zu verhindern – wenigstens der Frieden von der Arbeiterklasse diktiert und von ihren Interessen geprägt sein würde.

In welcher Weise die deutsche Sozialdemokratie ihrer Schlüsselstellung am 4. August 1914 gerecht wurde, ist bekannt. Aber gerade weil das Ende des Weltkrieges nicht zugleich im Vollzug des in Russland eröffneten Prozesses der permanenten Revolution auch die revolutionäre Überwindung des deutschen Imperialismus bedeutete, blieb Deutschland nach wie vor das  e n t s c h e i d e n d e  Schlachtfeld des internationalen Klassenkampfs. Das Ende des Weltkrieges bezeichnet durchaus nicht den Anbruch einer neuen historischen ‚Epoche‘. Die Zwischenkriegszeit ist in Wahrheit nichts als eine verzögerte Verschnaufpause zwischen zwei Waffengängen in ein und derselbe historischen Auseinandersetzung: Wer tritt das Erbe Großbritanniens an und reorganisiert den Weltmarkt unter einer Ägide – Deutschland oder Amerika? Eine Pause, die den imperialistischen Mächten von der materiellen Erschöpfung sämtlicher kriegführender Parteien [in Europa] ebenso diktiert wurde wie von dem vordringlichen Gebot, die sich in Mitteleuropa entfaltende Dynamik der permanenten Revolution zu brechen, die andernfalls drohte, das Problem eines neuen internationalen Gleichgewichts mit den Mitteln der Arbeiterklasse zu lösen.

*

R u s s l a n d  hatte mit der Bildung der Sowjetmacht aufgehört, eine aktive Rolle auf dem Weltmarkt zu spielen, und so konnte auch die russische Arbeiterklasse im internationalen Klassenkampf im günstigsten Fall den Platz einer Relaisstation, einer logistischen Operationslinie einnehmen. Stattdessen verwandelte sich freilich die Kommunistische Internationale in einen bloßen logistischen Apparat der GPU; damit hatten  die tatsächliche Resultate der Oktoberrevolution ihre positive Bedeutung für den internationalen Klassenkampf verloren. Denn die bloße  E x i s t e n z  der Sowjetrepublik stellte zu keinem Zeitpunkt eine aktive Bedrohung der kapitalistischen Weltordnung, eine Bedrohung für den Weltmarkt dar. Für diesen bedeutete sie schlimmstenfalls den ärgerlichen Verlust eines potentiellen Absatzgebiets und beträchtlicher Rohstoffquellen.  U n e r s e t z l i c h  war dieser Verlust allerdings nur für den  d e u t s c h e n  Imperialismus, der hier seine strategischen Reserven für seinen zweiten „Griff nach der Weltmacht“ suchen musste.

Für Deutschlands Konkurrenten steht dagegen der Kampf gegen  die Sowjetmacht gerade solange auf der Tagesordnung, wie die russische Partei in der Komintern eine aktiv revolutionäre Rolle spielt – und danach kommt sie gegebenenfalls sogar als Verbündeter in Betracht.

Da der Sozialismus in einem Land nicht bestehen kann, muss das Ende der proletarischen Revolution in Europa – die doch allein dem bäuerlichen Russland den Sprung auf eine den imperialistischen Weltmarktverhältnissen überlegene Qualität der Arbeitsteilung hätte erlauben können – die Sowjetmacht in eine Sackgasse führen, in der sie zunächst passiv verkümmert, um schließlich zu einem bonapartistisch-bürokratischen System zu degenerieren, welches den internationalen Status quo ebenso wie die Paralyse der Klassenkämpfe ebenso als seine Seinsbedingungen erkennt wie die imperialistischen Mächte selbst. Dieses gesellschaftliche Gebilde ist keineswegs der Todfeind der imperialistischen Weltherrschaft, und es gibt keinen Grund, weshalb der Imperialismus   a l s  G a n z e s  der seine sein sollte. Die Annahme eines unversöhnlichen Widerspruchs und einer unvermeidlichen Endabrechnung zwischen dem sowjetischen System und dem 'Weltkapital' ist selber ein entfernter Widerhall des Märchens vom 'Sozialismus in einem Land', von dem auch die Trotzkisten nicht ganz unberührt geblieben sind, und selbst Trotzki hat auch nicht für einen Augenblick die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass sich die imperialistischen Mächte im Zweiten Weltkrieg  m i t  der Sowjetunion  g e g e n  Deutschland verbünden könnten – statt umgekehrt einen allgemeinen abendländischen Kreuzzug gen Osten zu organisieren…

*

Zehn Jahre nach dem endgültigen Scheitern der deutschen Revolution liegt 1933 der "Schlüssel zur internationalen Lage" wiederum in den Händen der  d e u t s c h e n  Arbeiterklasse. Hitler bedeutet nicht bloß Krieg mit der Sowjetunion, sondern bedeutet noch vielmehr die Fortsetzung des 1918 zeitweilig vertagten  W e l t k r i e g s  um die Führungsrolle im imperialistischen System.

Und ein zweites Mal ist es der Zusammenbruch der  d e u t s c h e n  Arbeiterbewegung, die es dem Kapital gestattet, die internationalen Klassenorganisation der Arbeiter zu zerschlagen und stattdessen die Millionenheere der Proletarier  g e g e n e i n a n d e r  in die Schlacht zu führen.

Und die Entscheidung fällt zu Gunsten des nordamerikanischen Kapitals, das nun seinerseits Europa – Westeuropa! – "reorganisiert", um es in eine riesiges Anlagefeld seiner überschüssigen, anderweits unverwertbaren Kapitalmassen zu verwandeln – und so selbst die Voraussetzungen zu schaffen für den Wiederaufstieg Europas  g e g e n  die USA, unter Führung der… Deutschen Mark! Und man darf sich, angesichts der höchst aktiven Rolle der deutschen Sozialdemokratie bei der Organisierung der portugiesischen Konterrevolution, die Frage stellen, ob heute in Europa die  M a c h t f r a g e  überhaupt noch in nationalstaatlichen Grenzen gestellt werden kann, solange nicht die  d e u t s c h e  Arbeiterklasse zu bewussten Klassenpolitik zurückfindet, sondern ihre eigne Bourgeoisie ungestört die Rolle des kontinentalen Gendarmes spielen lässt. 

*

Es ist mir nicht verborgen geblieben, dass sich diese Betrachtungsweise an mehr als nur einer Stelle gegen den Geist und den Buchstaben den leninistisch-trotzkistischen Orthodoxie versündigen muss:

Mit der normativen Geltung der Oktoberrevolution zieht sie zugleich den allseits beliebten "revolutionären Grundcharakter der Epoche", nämlich der "Epoche der proletarischen Weltrevolution" oder auch "Niedergangsepoche des Imperialismus" in Zweifel; sie  r e v i d i e r t  die Analysen des Gründungsdokuments von 1938 – insbesondere in der Beurteilung des II. Weltkriegs; sie wirft mit der Frage nach dem geschichtlichen Standort der Sowjetunion auch die Diskussion um die Bedeutung des  S t a l i n i s m u s  auf und vergreift sich folglich auch an der ganzen Begriffsscholastik um den 'bürokratisch degenerierten  A r b e i t e r staat' und die einzig und allein 'politische' Revolution…

Als Anmerkung zum letzten Punkt nur soviel: Die Formel vom 'bürokratisch deformierten Arbeiterstaat' wurde von  L e n i n  während der Gewerkschaftsdebatte geprägt, um die Entartungserscheinungen des Sowjetregimes  v o r  dem Thermidor zu kennzeichnen, und darum redet die Linke Opposition  n a c h  dem Thermidor, nach der Bildung der Bürokratie zu einer besonderen  s o z i a l e n  Kategorie, von der Degeneration, d. h. von der  E n t a r t u n g  des ehemaligen Arbeiterstaats. Aber die höchst 'orthodoxen' Trotzkisten haben keine Bedenken, Lenins Formel nach dem [ II.] Weltkrieg auf die bonapartistisch-bürokratischen Regimes in Osteuropa zu übertragen, die doch gar keines 'Thermidors' bedurft hatten, weil in ihren Ländern das Proletariat niemals die Macht ergriffen hatte. Es verschiebt sich also in der 'Orthodoxie' die Betonung deutlich von dem  d e g e n e r i e r t e n,  d. h. in seiner proletarischen Substanz in Frage gestellten Arbeiterstaat, über dessen 'Natur' die 'Geschichte noch nicht entschieden' hat, auf den deformierten  A r b e i t e r staat, der bei allen Entstellungen seiner äußeren Erscheinungsform doch im wesentlichen die 'Errungenschaften des Oktobers' repräsentiert. So braucht es denn auch nicht zu überraschen, wenn im trotzkistischen Alltagsjargon der Einfachheit halber schlicht von 'den Arbeiterstaaten' die Rede ist, während z. B. Rouge* schon ganz unbefangen von den "sozialistischen Ländern" zu berichten weiß…

Dann bekommt auch die Formel von der  p o l i t i s c h e n  Revolution plötzlich eine restriktive Bedeutung im Sinne einer 'kleinen Revolution' – vielleicht sogar ganz graduell, fragt nicht nur Isaac Deutscher! – im Gegensatz zu der Großen Revolution, die im Westen noch aussteht – und dies, obgleich man doch nach wie vor den Charakter der Bürokratie als besonderes  s o z i a l e s  Gebilde betont!  

*

Ich kann hier nicht in die sachliche Diskussion selbst eintreten; allerdings will ich vorab darauf hinweisen, dass es uns der Verstoß gegen das eine oder andere Dogma der Epigonen immerhin erlaubt, in der  S u b s t a n z  gut marxistisch-'orthodox' zu bleiben, nämlich was den internationalen Charakter der Arbeiterklasse, den permanenten Charakter der proletarischen  W e l t revolution und die Unmöglichkeit des Sozialismus 'in einem Land' betrifft – und dies im Unterschied zu so manchem zitatenfesten** 'Trotzkisten', für den im Begriff der "Übergangsgesellschaft" – ein halbes Jahrhundert 'Übergang'! – das Urteil der Geschichte in Wahrheit längst gesprochen ist: Es  i s t  schon irgendwie eine Art von 'Sozialismus' – wenngleich auch vorläufig noch ‚im Wartestand‘…

Freilich können wir nicht so tun, als hätten wir freie Hand, um wiedermal "ganz neu anzufangen". Auch die dogmatische Erstarrung der 'Theorie' ist, wie gesagt, eine historische Tatsache. Wir können nicht achtlos an ihr vorbeigehen, denn welches Material steht uns denn anders zu Gebot? Wir müssen vielmehr 'den Dogmatikern nachzuhelfen suchen, dass sie ihre Sätze sich klarmachen* (Marx): Diese sind ebenso sehr unser Material, wie die praktischen Kämpfe. Unser Werkzeug ist die Kritik, aber diese Kritik muss rücksichtslos sein: rücksichtlos sowohl in dem Sinn, dass sie sich nicht vor dem Konflikt mit den vorhandenen Mächte fürchtet  u n d   e b e n s o w e n i g   v o r   i h r e n   e i g e n e n  R e s u l t a t e n.

*)Tageszeitung der damaligen LCR in Frankreich

_______________________________________________________________________________

*) Schlimmer, als es gekommen ist - muss man heute ergänzen -, hätte es nicht kommen können.
**) Das nehme ich zurück: Diese Leute schmeißen zwar unter Umständen mit Zitaten um sich - aber woher sie kommen und wohin sie gehören, das wollen sie nicht einmal wissen. 'Fest' sind sie nicht, höchstens jonglieren sie, und das ist das Gegenteil.